Als die Amerikanerin vor knapp zwei Monaten in Wimbledon auf nassem Rasen ausrutschte und sich leicht verletzte, dachte man, ihre Karriere könnte endgültig vorbei sein. Doch Venus Williams ist eine Stehauffrau, wohl auch, weil sie durch ihre Jugend in Armut geprägt wurde.
Daniel Germann
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Die deutsche Band Alphaville hatte 1984 mit dem Titel «Forever Young» einen internationalen Hit, der es auch in die amerikanischen Billboard-Charts schaffte (Platz 65). Die Ballade handelt vom urmenschlichen Wunsch, die Zeit festzuhalten und für immer jung zu bleiben.
Als der Hit seinen ersten Sommer erlebt hatte, gewann im Frauentennis am US Open die tschechischstämmige Amerikanerin Martina Navratilova im Final gegen Chris Evert-Lloyd ihren zweiten von insgesamt vier Titeln auf den Hartplätzen von Flushing Meadows.
Das Duell dieser beiden Ikonen prägte die Sportart. Doch der legendäre, unterdessen verstorbene Tennisjournalist Bud Collins pflegte seinen Zuhörern schon wenige Jahre später einzutrichtern: «Wartet nur ab, da zeichnet sich etwas ab, was wie eine Urgewalt über das Frauentennis ziehen wird und alles, was wir bisher gekannt haben, in den Schatten stellt: die Williams-Schwestern.»
Eine Familie, aufgestiegen aus den Slums von Los Angeles
Als Alphaville von Deutschland aus den Jugendwahn zu besingen begann, hatten der damals vierjährigen Venus und der gut ein Jahr jüngeren Serena Williams die Köpfe noch nach allem anderen als nach Tennis gestanden. Aber im von Rassenunruhen erschütterten Compton, einem Vorort von Los Angeles, versuchte ihr Vater Richard Williams, aus ihnen Tennisstars zu formen. Sein erster Rat galt nicht der optimalen Fussstellung bei der Vorhand, sondern lautete ganz einfach: «Falls ihr Schüsse hört, werft euch sofort zu Boden und bleibt flach liegen.»
Die Story der Familie wurde 2021 im Oscar-gekrönten Film «King Richard» nachgezeichnet. Dieses Werk wird in erster Linie getragen durch die Tellerwäscher-Geschichte der Williams-Schwestern, die allen Widerständen und dem latent vorhandenen Rassismus zum Trotz Bud Collins’ Prophezeiung erfüllten; sie wurden aus purer Armut zu weltweiten Ikonen und ordneten das Frauentennis neu.
Serena Williams eröffnet auf Youtube, dass sie mit ihrer zweiten Tochter schwanger ist.
Serena Williams gewann 23 Major-Einzeltitel und dominierte die Sportart über zwei Jahrzehnte lang. Nach dem US Open 2022 trat sie zurück. Sie ist zurzeit mit ihrer zweiten Tochter schwanger. Venus Williams gewann sieben Major-Titel im Einzel und führte die Weltrangliste während 330 Wochen an. Und ist heute, im Alter von 43 Jahren, noch immer aktiv.
Für das am Montag beginnende US Open erhielt sie von den Organisatoren des letzten Grand-Slam-Events der Saison eine Wild Card, sie ist an diesem Anlass zum 24.Mal dabei. Ihr Platz in der Weltrangliste (WTA 410) würde nicht einmal mehr reichen, um ihr in Flushing Meadows die Teilnahme am Qualifikationsturnier zu ermöglichen. Nach einer mehr als halbjährigen Verletzungspause gewann Williams vor zwei Wochen in Cincinnati erstmals wieder seit 2019 eine Partie gegen eine Gegnerin aus den Top 20, und zwar gegen Veronika Kudermetowa.
Im Alphaville-Song lautet eine Textzeile: «Let’s dance in style, let’s dance for a while», zu Deutsch: Lasst uns mit Stil tanzen, lasst uns noch für einen Moment lang weitertanzen. Doch wie tanzt man als Ikone einer Sportart mit Stil, und wann ist endgültig genug?
Vor acht Wochen trat Venus Williams bereits in Wimbledon mit einer Wild Card an und war dort in der ersten Runde gegen die Ukrainerin Elina Switolina (WTA 26) chancenlos geblieben. Im dritten Aufschlagspiel war Williams auf feuchtem Gras ausgerutscht und verletzte sich dabei leicht am einen Knie. Sie biss sich bis zum Ende durch, sprach aber hinterher von einem Schock: «Ich muss mir genau überlegen, wie es weitergehen soll. Ich hatte bereits so viele Verletzungen. Emotional ist das für mich gerade ein sehr schwieriger Moment.»
Verletzungen und andere körperliche Probleme begleiteten sie zeit ihrer Karriere. 2011 wurde bei ihr das Sjögren-Syndrom diagnostiziert, eine Autoimmunerkrankung, die Gelenkschmerzen und grosse Müdigkeit hervorruft. Nach dem Ausrutscher in Wimbledon gegen Switolina kursierten deshalb sofort Gerüchte um ihren Rücktritt.
Nur wenige Wochen später stand sie aber wieder auf dem Platz und gewann gegen Kudermetowa (WTA 16), was offenbar nicht nur sie ermutigte, sondern auch die Organisatoren des US Open, die sie trotz ihrem Alter und fehlender Matchpraxis zu ihrem Turnier einluden. Als Erstrundengegnerin wurde ihr Paula Badosa zugelost. Doch die Spanierin zog sich am Sonntag vom Turnier zurück. An ihrer Stelle wird nun eine Lucky Loserin gegen Williams antreten.
Das Lied «Forever Young» von Alphaville.
Youtube
Auch eine Modeschöpferin und Frauenrechtlerin
Venus Williams galt einst in der Szene als das grosse Versprechen. 1997, mit 17 Jahren, erreichte sie in New York ihren ersten Major-Final; sie verlor ihn gegen die junge Martina Hingis. Drei Jahre später gewann Williams in Wimbledon, New York und am Olympia-Turnier von Sydney – und war an der Spitze angekommen. Doch bald wurde sie von ihrer jüngeren Schwester Serena von dieser verdrängt.
Venus Williams hat sich allerdings schon früh nicht nur über den Sport und die dortigen Erfolge definiert. Sie kreierte ihre eigene Mode und machte sich für Anliegen von Frauen und Nichtweissen in den USA stark. Sie wurde zur Influencerin, als dieses Label für jene, die es trugen, noch eine Auszeichnung war. Nun will Williams am US Open noch einmal tanzen. Sie wird vom Publikum in New York mit offenen Armen empfangen werden.
In Alphavilles Ohrwurm heisst es auch: «Es ist so hart, grundlos alt zu werden. Ich will nicht verschwinden wie ein verblasstes Pferd.» Venus Williams wird nie als blasse Erscheinung verschwinden und vergessen werden. Aber auch Karrieren von Ausnahmeerscheinungen haben ein Ablaufdatum.
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Daniel Germann
Daniel Germann (Text), Julie Lovens (Bildredaktion)
Andreas Scheiner